Preußens neue Forstwirtschaft
1. So weit das Auge reicht

Ich stehe mit meinem Sohn auf dem Bergrücken über dem Tal. Die Luft ist klar, das Licht der sinkenden Sonne taucht den Wald unter uns in goldenes Glühen. So weit das Auge reicht: Bäume. Dicht, dunkel, endlos. „Sieh nur, Paul”, sage ich, und meine Stimme hallt leise in der Stille des Abends. „Das ist unser Wald. Von hier bis zum nächsten Gebirge, und darüber hinaus. Eine einzige grüne Decke mit kaum einer Lichtung, kaum einem Feld dazwischen.” Mein Sohn, noch keine zehn Jahre alt, sieht staunend hinunter. Ich, Friedrich, bin Bergmann, wie schon mein Vater. Seit zwanzig Jahren fahre ich ein in die Stollen des Erzgebirges. Silber, Kupfer, Eisen – wir holen sie aus dem Bauch der Erde. Aber dafür brauchen wir Holz. Viel Holz. „Jeder Balken in der Grube stammt aus diesem Wald”, erkläre ich ihm. „Und für unsere Haspel, die Wasserkunst, die Öfen – alles braucht Holz. Der Berg frisst mehr, als man sich vorstellen kann.” Paul runzelt die Stirn. „Geht das Holz nicht irgendwann aus?” fragt er. Ich lache leise. „Ach was, mein Junge. Sieh dich doch um! Dieser Wald reicht von Gebirge zu Gebirge. Seit Jahrhunderten holen wir uns, was wir brauchen, und noch immer ist genug da. Es ist, als würde der Wald niemals enden.” Anfangs ist da nur ein einzelner Stollen, verborgen im Wald, kaum mehr als ein dunkles Loch im Hang. Ein paar Männer, Spitzhacken, ein Förderkorb. Doch mit jedem Jahr dringen sie tiefer vor. Neue Schächte werden getrieben, Querschläge gegraben, ein ganzes Netz unter der Erde wächst wie das Wurzelwerk eines Baumes – nur dass dieser Baum in Dunkelheit blüht. Über der Erde bleibt es nicht still. Schuppen werden gebaut, Haspelwerke errichtet, Wasserräder schlagen ihre Rinnen in den Hang. Man bringt Erz nach oben, viel Erz – und bald braucht man mehr: mehr Arbeiter, mehr Holz, mehr Feuer. Straßen entstehen, wo vorher nur Trampelpfade durch das Dickicht führten. Breite Wege für Ochsengespanne, für Fuhrwerke voller Holz und Erz. Der Boden wird hartgefahren, die Wälder weichen Schneisen und Gerüsten. An den Straßenrändern wachsen Dörfer. Erst einfache Hütten, dann Fachwerkhäuser. Eine Schmiede, eine Schänke, eine Kirche. Wo die Menschen bleiben, legen sie Felder an. Sie roden Lichtungen, stürzen Bäume, verbrennen Wurzelwerk. Die Erde wird gepflügt, gesät, geerntet – und wieder gepflügt. Was einst wilder, endloser Wald war, wird zur Landschaft aus Menschenhand:
Gruben, Räder, Schlackenhalden.
Straßen, Höfe, Schuppen.
Felder, Dörfer, Kirchtürme.
Der preußische Beamte sitzt auf seinem Pferd, den Mantel über der Brust zusammengezogen gegen den frischen Morgenwind. Hinter ihm steigt feiner Rauch auf aus den Schornsteinen eines Dorfes, das noch vor wenigen Jahrzehnten nicht mehr war als eine Lichtung im Wald. Jetzt führen gepflasterte Wege durch den Ort. Kinder tragen Wasser, Schmiede schlagen Funken, und aus den Fenstern riecht es nach Brot und Schweiß. Der Beamte nickt zufrieden. Er reitet weiter, folgt dem Tal entlang. Auf beiden Seiten steigen Berghänge auf, kahlgeschlagen bis fast zur Kuppe. Nur hier und da steht noch eine Baumgruppe, schwarz gegen den Himmel. Aber was hier verloren ging, denkt er, ist gut investiert. An einer Wegbiegung macht er Halt. Vor ihm liegt ein Bergwerk. Schächte mit stabilen Holzaufbauten, Haspelwerke drehen sich langsam, das Quietschen der Seile vermischt sich mit dem gleichmäßigen Stampfen der Erzmühlen. Er steigt ab, spricht mit einem Aufseher. Der Mann zeigt ihm stolz die Vorrichtungen: neue Stützbalken, verbesserte Entwässerung, das geordnete Stollenregister. „Wir holen heute doppelt so viel Erz wie noch zu Vaters Zeiten”, sagt der Aufseher. „Und die Leute hungern nicht mehr.” Der Beamte macht sich Notizen. Er spricht mit den Bergleuten, den Fuhrleuten, den Schmieden. Jeder von ihnen trägt Spuren harter Arbeit im Gesicht – aber auch etwas anderes: Stolz. Am Nachmittag reitet er weiter. Die Felder liegen satt und breit über den Hügeln, eingefasst von Steinmauern und jungen Hecken. Man hat gelernt, dem Boden mehr abzugewinnen. Er erinnert sich an alte Karten, an Berichte aus der Zeit seines Großvaters. Damals war dies noch dichter Wald, kaum durchdrungen von Wegen. Jetzt ist es ein Land des Fleißes geworden. Als die Sonne hinter den Bergen verschwindet, hält der Beamte inne. In der Ferne glimmt das Licht von Dörfern, verteilt über das ganze Tal. Er lächelt. „Was diese Menschen in wenigen Jahrzehnten geschaffen haben”, murmelt er, „ist ein Wunder aus Erz, Holz und Schweiß.”
2. "Glück auf"

Der Beamte reist weiter, nun mit anderen Augen. Er sieht die Gruben, die Mühlen, die Dörfer – doch auch die kahlen Hänge, das lichte Unterholz, das Sterben der Quellen. Er spricht mit den Bergleuten in den Pausen zwischen den Schichten. Männer mit rußgeschwärzten Gesichtern, erschöpft, aber voller Stolz. „Der Wald geht zur Neige”, sagt er. „Ohne ihn – keine Stützbalken, kein Erz, keine Arbeit.” Ein alter Mann, der schon unter Tage war, als der Beamte noch ein Kind war, spuckt in den Staub. „Ihr sagt uns das jetzt? Wo waren eure Warnungen, als wir anfingen zu graben? Als eure Offiziere mehr Silber forderten für Kanonen und Uniformen? Ihr habt das Erz gebraucht. Jetzt wollt ihr uns Schuld geben?” Ein anderer ruft: „Wenn das Holz knapp wird, dann zieht weiter! Da draußen gibt es noch Wälder genug. Der Osten ist weit – und im Westen stehen noch unberührte Berge.” Der Beamte erwidert ruhig: „Und was, wenn dort auch eines Tages nur Staub bleibt?” Ein junger Arbeiter, kaum zwanzig, lacht bitter. „Dann ziehen wir weiter. So wie immer. Der Mensch folgt dem Erz. Ihr müsst uns nur das Land verschaffen. Führt uns dorthin – mit Karte, Gesetz oder mit dem Gewehr. Ihr seid die Beamten. Ihr habt die Macht.” Die Gespräche verlaufen oft so. Auch die Bauern, denen der Boden erodiert, denen das Wasser fehlt, zucken mit den Schultern. „Was sollen wir tun? Ohne Rodung kein Acker, ohne Acker kein Brot. Sollen wir in die Städte ziehen und betteln?” Der Beamte notiert. Hört zu. Schweigt oft. Er erkennt, dass es kein böses Wollen ist, was den Wald frisst – sondern ein Kreislauf aus Notwendigkeit und Gewohnheit. Doch in ihm wächst die Frage:
Wer wird den Kreislauf durchbrechen? Und wann? Wenn das letzte Tal leer ist? Wenn die Berge schweigen? Oder wenn einer den Mut hat, nicht weiterzuziehen?
3. „Die Kosten des Holzes”

Der Wind fegt über das Hafenbecken von Danzig, schneidend, salzig, schwer vom Geruch von Teer, Seetang und Arbeit. Möwen kreischen, die Masten der Schiffe klirren im Takt der Wellen, und der Beamte zieht den Mantel fester um die Schultern, als er das Werftgelände betritt. Überall schlagen Hämmer. Männer stemmen Planken, stemmen Ketten, stemmen Lasten. Hier entstehen Schiffe für den preußischen Handel, für die Flotte, für das Militär. Doch etwas fehlt – und das ist unübersehbar. „Wir haben kaum noch gutes Holz”, sagt der Werftmeister, ein stämmiger Mann mit rauer Stimme, während er über das Gelände führt. „Vor allem keine langen, geraden Stämme mehr. Nichts, das sich für Masten eignet. Nichts für Spanten, die ein Leben lang halten.” Er bleibt an einem halbfertigen Schiffsrumpf stehen und zeigt auf eine eingesetzte Planke, rissig, knotig. „Das ist zweitrangige Ware. Wenn wir so weiterbauen, werden unsere Schiffe alt sein, bevor sie das erste Mal den offenen Ozean sehen.” Der Beamte hört zu, notiert. „Was ist mit Import?” fragt er schließlich. Der Werftmeister schaut aufs Meer hinaus. „Bald zahlen wir gutes Gold an die Schweden für ihr Holz. Gutes, langes, nordisches Nadelholz. Und noch mehr an die Engländer, wenn sie uns überhaupt liefern. Sie kaufen den halben Ostseeraum leer. Ganze Schiffsladungen treiben an unserer Küste vorbei – nicht für uns, sondern für ihre Flotten, ihre Siedlungen in Übersee, ihre eigenen Träume.” Er macht eine wegwerfende Geste. „Wir haben kein Kolonialreich. Kein Norwegen, kein Kanada. Kein Tropenholz. Wir haben nur das, was wir hier schlagen können – und das geht zur Neige.” Der Beamte schweigt. Der Werftmeister spricht weiter, leiser: „Und wer wird es zahlen, wenn das Holz fehlt? Wenn wir es importieren müssen? Wenn wir dafür mit Gold bezahlen müssen, das wir nicht haben?” Er zeigt auf die Stadt, auf die Läden, auf die Fischerboote, auf die Straßen voller Menschen. „Sie werden es zahlen. Die Bauern. Die Handwerker. Die kleinen Leute. Jeder Mast, den wir nicht selbst stellen können, wird in Talern bezahlt. Und jeder Taler kommt aus den Steuern. Du und ich, wir wissen das. Aber verstehen sie es?” Der Beamte blickt wieder hinaus aufs Meer. Am Horizont gleiten drei große englische Schiffe vorbei – schwer beladen, tief im Wasser liegend. „Holz”, murmelt der Werftmeister. „Und jedes Mal, wenn ich so ein Schiff sehe, denke ich: Dort fährt unser Zukunft davon.” Der Beamte nimmt seinen Hut ab und hält ihn gegen den Wind. In sein Notizbuch schreibt er nur zwei Sätze:
Wir haben keine Wälder mehr für unsere Schiffe. Und keine Flotte ohne unsere Wälder.
Er weiß: Wenn Preußen seine Wälder nicht bewahrt und erneuert, wird es zahlen. Nicht nur mit Geld – sondern mit Macht, mit Freiheit, mit Zukunft.
Was die Geschichte wohl lehrt, fragt sich der Beamte und besucht die Bibliothek in Danzig. Er verlangt alte Schriften, Reiseberichte, Geschichtsbücher. Er liest von Spanien. Wie man dort die Wälder für die Armada fällte – Schiffe, Häuser, Öfen. Die Berge, einst grün, heute bloßes Gestein. Die Böden weggespült, die Felder vertrocknet. Er liest von Griechenland. Von der Antike, von Tempeln, Kriegen – und von dem Holz, das all dies nährte. Wie sie ihre Wälder opferten, bis nichts mehr stand. Wie aus Hainen Hügel wurden, aus Hügeln Staub. Der Beamte legt das Buch zur Seite. Das Kerzenlicht flackert. Er erkennt ein Muster. Ein Volk wächst, erschafft, verbraucht – und glaubt, der Wald sei ewig. Doch dann kommt der Punkt, an dem der Schatten der Bäume nicht mehr reicht. Und danach kommt der Staub. Er blickt durch das Fenster auf den dunklen Nachthimmel über der Stadt. Sein Herz ist schwer. Er fragt sich: Wird Preußen klüger sein? Oder nur später scheitern?
4. „Die, die gehen”

Der Beamte sitzt am Tisch eines kleinen Wirtshauses in einem märkischen Dorf. Der Lehm an seinen Stiefeln ist noch frisch, der Tag war lang. Er hat Förster besucht, Bauern befragt, mit Schmieden und Fuhrleuten gesprochen. Überall dieselbe Sorge: Die Wälder lichten sich, das Holz wird knapp, das Land wird müde. Da fällt sein Blick auf eine Gruppe Männer an einem Nebentisch. Fremde Gesichter, schweigsam, ernst. Ihre Kleidung ist schlicht, aber nicht ärmlich. Einer trägt eine lederne Umhängetasche mit Wachssiegeln daran. „Die sind aus Russland”, flüstert der Wirt, der dem Beamten den Krug füllt. „Werber. Im Auftrag der Zarin.” Und tatsächlich: Es sind Boten aus dem Osten. Schon seit Jahren schickt die russische Zarin Katharina – selbst deutschen Blutes – ihre Abgesandten durch Preußen und die angrenzenden Fürstentümer. Sie werben Bauern, Handwerker, Bergleute an. Land, Freiheit, Holz, so versprechen sie. „Dort drüben in der Wolgaregion gibt es Wald, fruchtbare Böden, Flüsse, Weite – mehr, als ein Mensch braucht”, sagt einer der Boten mit schwerem Akzent. „Ihr braucht hier Jahre, um euch ein Haus und ein Stück Land zu verdienen. Dort habt ihr es in einem.” Der Beamte ist neugierig. Am nächsten Tag besucht er ein Gehöft am Dorfrand. Dort leben die Bauersleute Johann und Marie, mit vier Kindern, einem Knecht und einer Großmutter. Er fragt: „Stimmt es? Ihr wollt gehen?” Johann nickt. „Ich bin kein Träumer, Herr. Aber sehen Sie sich um. Der Wald, wo mein Vater jagen ging, ist verschwunden. Der Boden wird dünn. Der Zehnt wird nicht kleiner, und das Holz teurer als Brot. Was sollen wir unseren Kindern sagen? Dass sie hier wurzeln sollen, wo nichts mehr wächst?” Marie fügt hinzu: „Die Zarin verspricht uns, was wir hier verloren haben: Land, Vieh, Freiheit vom Militärdienst – und Wälder, so weit das Auge reicht.” Der Beamte ist betroffen. Es ist nicht Aufruhr, nicht Hunger, nicht Rebellion, was diese Menschen treibt. Es ist Einsicht. Und Hoffnung. Am Abend spricht er mit dem Pfarrer des Dorfs. „Was sagen Sie dazu?” Der alte Mann seufzt. „Wir verlieren unsere Besten. Die Fleißigen, die mitdenken, die nicht jammern, sondern handeln. Sie gehen nicht, weil sie dieses Land verachten – sondern weil sie ihm nicht mehr trauen.” Der Beamte reitet am nächsten Tag weiter, durch einen verarmten Ort in Schlesien, wo das Flussbett trocken liegt und die Kinder barfuß spielen. An der Dorfkirche hängt ein Anschlag:
„Für alle, die den Ruf nach Osten hören:
Die Zarin gibt freies Land, eigenes Dorfgericht, eigene Sprache. Kein Militär, kein Frondienst. Nur Arbeit – und Wald.”
In seinem Bericht an das Ministerium schreibt der Beamte:
Preußen verliert nicht nur Wald. Es verliert Menschen. Wenn wir ihnen nicht geben, was sie brauchen, werden andere es tun. Der Wald ist nicht nur Holz. Er ist Hoffnung. Und wer keine Hoffnung mehr sieht, geht dorthin, wo sie wächst. Und wieder denkt er an die englischen Schiffe voller Holz. Und nun auch an die leeren Wagen, die langsam gen Osten rollen.
5. „Die Saat der Erkenntnis”

Der Beamte wendet sich an jene, die den Wald am besten kennen: die Förster. Männer, die in Hütten am Waldrand wohnen, mit dem Klang der Bäume aufwachsen und den Wechsel der Jahreszeiten besser kennen als den Lauf der Münze. Er trifft sie in ihren Revierhäusern, an Säumen alter Eichen, auf durchweichten Wegen im Schatten des verbliebenen Grüns. „Ihr habt gesehen, was geschieht”, sagt der Beamte. „Ihr müsst es doch wissen. Das Land verliert seinen Wald. Die Erde blutet.” Ein Förster, alt, mit wettergegerbtem Gesicht, nickt langsam. „Wir sehen es, Herr. Aber was sollen wir tun? Seit Jahrzehnten weichen wir den Dörfern, den Feldern, den Gruben. Unsere Reviere werden kleiner, die jungen Bäume verschwinden, bevor sie über die Brusthöhe wachsen.” Ein anderer, jünger, entschlossener: „Doch wir kennen die Antwort. Die Buche braucht Zeit, die Eiche Geduld. Aber eines wächst schnell. Die Fichte. Sie ist genügsam, wächst gerade, dicht, und sie gibt gutes Holz – schnell.” Der Beamte horcht auf. „Aber ist sie widerstandsfähig?” „Nicht wie der alte Wald, nicht wie Mischholz”, antwortet der Förster. „Doch besser ein Wald aus Fichten als kein Wald mehr.” Der Beamte kehrt nach Berlin zurück. Mit Notizen, Karten, Berichten – und mit einem Ziel. In den Gängen der Ministerien klingt seine Stimme entschlossen: „Wir stehen an der Grenze. Die Wälder sind geschlagen, die Landschaft ausgezehrt. Doch wir haben das Wissen. Die Aufforstung ist möglich. Geplant, geführt, gefördert.” Er legt dar, was er sah – und was er lernte. Von Spanien, von Griechenland, von Preußen. Und so wird ein Erlass unterzeichnet: Fichtensetzlinge sollen gezogen werden, Millionen. Förster erhalten neue Aufgaben, neue Reviere. Die Bergwerke sollen zahlen, die Gemeinden helfen. Es ist kein romantischer Wald, der da wachsen soll. Kein Märchenforst. Aber ein Anfang. Ein Wald aus Nadel und Ordnung, gepflanzt im Geist der Vernunft – vielleicht auch aus Furcht. Der Beamte blickt aus dem Fenster seines Amtszimmers. Unten rauschen Kutschen, Kinder laufen über das Pflaster. Er denkt an Paul, den Sohn des Bergmanns. An den staubigen Hang. Und an das leise Wispern der Förster: „Ein Baum braucht Zeit. Aber ein Entschluss – der braucht nur Mut.”
6. „Ein Wald aus Willen”

Die Aufforstung Preußens ist nicht bloß ein Erlass des Königs, kein Nebenbei im Getriebe der Verwaltung – sie ist eine Zäsur. Ein Wendepunkt im Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Noch nie zuvor hat ein Staat mit solcher Klarheit, solcher Weitsicht versucht, den Wald nicht nur zu schützen, sondern wiederherzustellen. Was einst verschwenderisch verbrannt, verbaut, vergraben wurde, soll nun wachsen – nicht wild, nicht zufällig, sondern geordnet. In den Ministerien spricht man von „forstwirtschaftlicher Ordnung”, von „nachhaltiger Holznutzung” – ein Begriff, der neu ist und dennoch rasch Wurzeln schlägt. Die Organisation ist gewaltig. Im Jahr 1785 wird die Königliche Forstakademie gegründet. Was mit einer kleinen Lehranstalt beginnt, wird bald zu einem ganzen Netzwerk von Försterschulen in Preußen. Junge Männer in grünen Uniformen ziehen durch das Land. Sie lernen Botanik und Geometrie, Bodenlehre und Wetterkunde, Verwaltungsrecht und Holzwirtschaft. Sie lernen zu messen, zu rechnen, zu beobachten – und zu führen. Jeder von ihnen bekommt nach der Ausbildung ein festes Revier. Mit einer exakt vermessenen Karte, einem Pflanzplan auf Jahre hinaus und der Verantwortung, die Bäume seines Gebiets nicht nur zu zählen, sondern zu begleiten. Der Wald wird verwaltet wie ein Schatzhaus: Inventar, Pflege, Zukunftsplanung. Zunächst entstehen kleine Baumschulen am Rand der Dörfer. Förster und Schulkinder sammeln Samen von Fichten, Eichen, Lärchen. Die Saat wird in Reih und Glied gesät, behütet und bewässert. Schon bald reichen die kleinen Anlagen nicht mehr aus. Großbaumschulen entstehen, manche mit Tausenden von Setzlingen, mit eigenen Gärtnern, Lehrmeistern, Vorratskammern und Saatgutbibliotheken. Die Fichte – die schnelle, genügsame – wird zur Leitart. Gerade gewachsen, verwertbar, wirtschaftlich. Doch die Förster wissen auch um die Schwächen: Monokultur bringt Gefahr. Deshalb pflanzen sie durchmischt: Lärche in den höheren Lagen, wo der Wind weht. Kiefer auf sandigen Böden im Osten. Douglasie als Versuch aus Amerika. Und dort, wo es Zeit und Geduld erlauben: Eiche und Buche – für das nächste Jahrhundert. Die Menschen sollen nicht nur Zuschauer sein – sondern Mitwirkende. Ein königlicher Erlass bestimmt:
Für jedes Kind, das geboren wird, pflanzt die Gemeinde einen Baum. Für jedes gefällte Dutzend: ein neues Dutzend.
Der Dorflehrer erklärt den Kindern, warum der Wald ihre Zukunft ist. In der Dorfschule hängt ein Holzschnitt: Ein nackter Hang – und daneben derselbe Hang, nach 30 Jahren Aufforstung. Wanderlehrer ziehen übers Land. Sie tragen Stoffkarten, bringen Gläser mit Bodenproben, zeigen den Bauern, wie Regen ungeschützte Erde auswäscht, wie Quellen versiegen, wenn die Bäume fehlen. Sie erklären, dass der Wald nicht nur Holz gibt – sondern Schatten, Wasser, Windschutz und Leben. Anfangs ist das Misstrauen groß. Ein alter Bauer mit wettergegerbtem Gesicht sagt: „Warum soll ich pflanzen, was ich nie sehen werde? Ich brauche Holz jetzt – nicht in fünfzig Jahren.” Ein Beamter antwortet: „Du hast recht. Du wirst die Ernte nicht sehen. Aber dein Enkel wird unter diesen Bäumen stehen. Und er wird wissen, dass du sie gepflanzt hast.” Langsam wandelt sich die Haltung. Ein Schmied in einem Erzort pflanzt auf eigenem Grund fünf Reihen Kiefern – „damit mein Sohn nicht alles kaufen muss, was ich noch selbst schlagen konnte.” Eine Gemeinde im Spreewald pflanzt einen Gedenkwald für die Gefallenen des letzten Krieges. Jeder Baum trägt ein Namensschild. Ein Förster in Schlesien schreibt in sein Revierbuch:
„Ich pflanze heute für Menschen, die noch nicht geboren sind. Und doch fühle ich mich ihnen verbunden.” Nach Jahren der Saat, nach Jahrzehnten des Wartens beginnt er zu wachsen: In Sachsen wachsen junge Haine, wo einst Kahlschlag war. In der Uckermark binden neue Wälder den Sand. In Oberschlesien singen wieder Vögel in den Aufforstungen nahe den Gruben. Was einst ausgeraubt war, wird still grün. Nicht wild – sondern geordnet. Nicht romantisch – sondern gewollt. Nicht für den Moment – sondern für die Zukunft. Ein Wald aus Willen.
7. „Die Kunde verbreitet sich”

Die Nachricht verbreitet sich wie ein Flüstern durch Europa – erst unter Gelehrten und Beamten, dann unter Fürsten und Königen. In Preußen, heißt es, wächst ein neuer Wald. Nicht von selbst, nicht aus Zufall – sondern durch Planung, durch Ordnung, durch menschliche Hand. Was zunächst wie ein Gerücht klingt, wird bald zur Nachricht, die reisende Beamte in Wirtshäusern erzählen, die auf den Schreibtischen der Ministerien Europas landet: Preußen pflanzt. Und nicht nur ein wenig. Es pflanzt systematisch, im großen Maßstab, nach Zahlen, Tabellen und Plänen. Bald schon reisen Delegationen an. Ein sächsischer Kammerherr reitet durch den Harz, begleitet von zwei Forstbeamten in weißen Westen. Sie halten an frisch bepflanzten Hängen, wo junge Fichten in Reih und Glied stehen wie Rekruten auf dem Paradeplatz. Zwischen den Reihen liegt Rindenmulch, und kleine Holzschilder zeigen, wann die Setzlinge gepflanzt wurden und zu welchem Zweck. Ein bayerischer Gelehrter, mit Notizbuch und Monokel, besucht eine der neuen Försterschulen. Er hört Vorträge über Bodenkunde, Wasserkreisläufe und die Berechnung von Holzvorräten pro Hektar. Am Abend sitzt er still in seiner Kammer und schreibt: "Nie zuvor sah ich die Natur so sehr in den Dienst der Zukunft gestellt – nicht durch Ausbeutung, sondern durch Planung."
Eine französische Gesandtschaft lässt sich das preußische Forstregister zeigen. In ledergebundenen Bänden finden sich Einträge über jeden Waldabschnitt, jede Pflanzung, jede Ernte. Jeder Förster berichtet vierteljährlich, jeder Baum ist erfasst, vermessen, verzeichnet. Und aus England kommt ein Adliger, Lord Whitmore, der sich besonders für das wirtschaftliche Potenzial interessiert. Er reitet durch ein Tal, in dem vor wenigen Jahren noch Schlackenhalden lagen – nun stehen dort junge Lärchen und Fichten, in festem Abstand gepflanzt. Er lauscht einem preußischen Förster, der ihm Zahlen vorliest:
„Im Jahr 1825 werden wir die ersten Bestände ernten können. Der Ertrag ist bereits kalkuliert – nach Volumen, Qualität und Marktpreis.” Lord Whitmore zieht die Stirn kraus. „Ist dies nicht wider die Natur? So viel Ordnung im Wilden?” Der Förster, ein stiller Mann mit grauem Bart, antwortet, ohne aufzusehen: „Nein, Mylord. Es ist Natur unter guter Hand.” Die Besucher kehren heim, voller Eindrücke – und voller Fragen. Was Preußen hier tut, hat man so noch nie gesehen. Es ist nicht romantisch, nicht mal schön im klassischen Sinn. Aber es ist beeindruckend. Zukunftsträchtig. Es zeigt, dass der Wald nicht nur verloren gehen kann – sondern wiederkehren kann. Preußens Wälder beginnen, ein Symbol zu werden. Nicht mehr bloß Kulisse für Märchen, nicht mehr Revier für Fürstenjagden oder Versteck für Räuberballaden. Sondern ein Zeichen:
Für Ordnung.
Für Planung.
Für Verantwortung.
Und während andernorts die Axt noch tief ins alte Holz fährt, wächst in Preußen ein neuer Wald. Gerade. Geplant. Zukunftstragend.