Zug der Kimbern und Teutonen

1. Der Himmel stürzt ins Meer

(Küste der Uthlande um 120 v. Chr.)

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Naturgewalten zerstören den Lebensraum

Dunkle Wolkentürme wuchsen über der Küste der Uthlande. Windböen peitschten über das Gras, das sich flach auf den Boden presste wie in Angst vor dem, was kommen mochte. Orik, gerade zwölf Sommer alt, stand am Strand und blickte mit großen, ungläubigen Augen hinaus aufs Meer. Er kannte das Meer gut – seine Unberechenbarkeit, seine Launen –, doch heute schien es fremd und bedrohlich wie ein zorniges Wesen. „Orik, komm endlich!”, rief seine Schwester Solveig von weiter oben am Dünenrand. Doch Orik rührte sich nicht. Das Meer fesselte ihn. Dunkelgrün schäumend rollten die Wellen auf ihn zu, immer größer, immer wütender, und er spürte in seinem Inneren eine tiefe Furcht, die er noch nie zuvor erlebt hatte. Da griff plötzlich sein Vater Bjarn nach ihm, kräftig und entschlossen. „Weg hier, Junge! Schnell! Das ist kein gewöhnlicher Sturm.” Sie rannten gemeinsam zu ihrem Dorf, das geschützt hinter den Dünen lag. Doch Schutz gab es kaum mehr. Der Sturm tobte bereits mit gnadenloser Kraft. Dächer bebten, Tiere schrien panisch, und Menschen hasteten, um ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen. Dann, als hätte der Himmel beschlossen, mit dem Meer zu verschmelzen, veränderte sich das Grollen in ein Brüllen, das die Erde erzittern ließ. Orik sah entsetzt, wie sich am Horizont eine dunkle Linie bildete, die rasch näher kam. „Die Flutwelle!”, schrie jemand verzweifelt, und im gleichen Moment traf die Wasserwand auf die Küste. Mit der Gewalt eines Riesens schlug das Wasser über die Dünen hinweg, riss Häuser nieder, brach Pfähle wie Streichhölzer entzwei und schluckte die Erde, auf der sie seit Generationen lebten. Orik klammerte sich an seinen Vater, während kaltes Salzwasser über ihn hinwegschwappte, ihn hin und her warf, ihm die Luft zum Atmen raubte. Einen endlosen Augenblick lang war alles Wasser und Dunkelheit. Als der Junge wieder zu sich kam, lag er erschöpft und hustend auf schlammigem Grund. Das Dorf war verschwunden, fortgeschwemmt in einem einzigen, gnadenlosen Atemzug des Meeres. „Vater!”, rief er verzweifelt. „Solveig!” Doch seine Stimme verklang im Tosen der Wellen und im Wehklagen der Überlebenden. Von irgendwoher drangen Hilferufe zu ihm, fern und verloren. Orik richtete sich zitternd auf, schaute sich um. Seine Welt hatte aufgehört zu existieren. Der Sturm hatte sie fortgenommen, das Meer hatte sie verschlungen. Und doch stand er hier, lebend und atmend, mit einer Zukunft, die er sich niemals hatte vorstellen können. Vor ihm lagen nur noch Trümmer und Treibgut, Zeugen der Wut der Götter. Die Teutonen waren ein stolzes Volk, Kämpfer und Seefahrer. Doch nie zuvor hatten sie sich einem solchen Zorn stellen müssen. Orik ballte die Faust. Tränen liefen über seine Wangen, doch gleichzeitig fühlte er eine Kraft in sich, die größer war als seine Angst. Er würde nicht aufgeben, nicht hier und nicht jetzt. Denn auch wenn heute alles zerstört schien, so war doch das Leben stärker als jede Flut. Und langsam, Schritt um Schritt, begann Orik durch die Überreste seiner Heimat zu gehen, fest entschlossen, seinen Stamm und seine Familie wiederzufinden. Denn nach jedem Sturm, wusste er, kam auch wieder ein neuer Morgen.

2. Der Entschluss

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Die alte Heimat ist verloren

Der Rauch der letzten Feuer stieg grau und schwer in den Abendhimmel, als Orik durch das, was vom Dorfplatz noch übrig war, stapfte. Schlamm klebte an seinen Beinen, der salzige Wind brannte in seinen Augen. Überall um ihn her sammelten sich die Überlebenden – Männer, Frauen, Kinder. Viele hatten nichts mehr als das, was sie am Leibe trugen. Ein alter Stein, der einst das Zentrum der Versammlungen markiert hatte, ragte noch aus dem Boden. Dort standen nun die Häuptlinge – Bjarn, Oriks Vater, war einer von ihnen. Auch Häuptling Hrodgar aus dem Teutonen-Dorf war da, das jenseits der Sümpfe gelegen hatte. Sein Blick war hart, seine Stimme brüchig, als er sprach. „Wir haben den Sturm nicht überstanden. Wir haben ihn überlebt. Das ist ein Unterschied.” Die anderen nickten. Keines der Dörfer war verschont geblieben. Die Flut hatte sich tief ins Land gefressen. Die Weiden, auf denen früher die Tiere grasten, waren vom Salzwasser vergiftet. Die Brunnen schmeckten bitter. Ganze Inseln, auf denen einst Fischer lebten, existierten nicht mehr – fortgerissen, als hätte das Meer sie nie gekannt. „Wir können nicht bleiben,” sagte eine Frau mit heiserer Stimme. „Unsere Kinder werden hier nicht wachsen. Nur sterben.” Ein Schweigen legte sich über den Platz. Selbst der Wind hielt einen Moment inne. Dann trat Bjarn vor. „Wir müssen nach Süden ziehen. Dort gibt es fruchtbares Land, Flüsse, Wälder. Vielleicht auch Menschen, die uns feindlich sind. Aber besser das, als zu warten, bis die nächste Flut uns holt.” „Und wenn nicht alle mitkommen wollen?” fragte jemand aus der Menge. Hrodgar hob die Hand. „Jedes Dorf entscheidet selbst. Doch wir werden gemeinsam ziehen, wer sich anschließen will, ist willkommen. Kimbern, Teutonen – wir waren immer Brüder im Geist. Jetzt müssen wir es auf den Wegen auch sein.” Ein Murmeln ging durch die Versammelten. Zustimmung. Hoffnung. Angst. Orik stand am Rand, sah zu seinem Vater. Zum ersten Mal seit der Flutnacht war in Bjarns Augen wieder etwas wie Zuversicht zu sehen – oder vielleicht nur Entschlossenheit. Es machte keinen Unterschied. „Wohin genau?” fragte ein junger Mann. „Dorthin, wo die Götter uns führen,” antwortete Hrodgar. „Südlich der großen Ströme. Vielleicht bis ins Land der Hügel, von dem die Händler erzählten.” Die Versammlung löste sich langsam auf. Jeder Häuptling würde zurückkehren zu den Seinen, die bereit waren zu hören, zu entscheiden, zu packen, was noch zu retten war. Orik sah hinaus auf das Meer. Es war still geworden, glatt wie Silber. Friedlich. Aber er wusste es besser. Es war nicht das Meer, das ihnen nun ein Zuhause schenken würde. Die Zukunft lag auf der Straße nach Süden – unbekannt, gefährlich, lebendig. Und Orik war bereit, sie zu betreten.

3. Der Zug der Vielen

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Immer mehr Sippen schließen sich dem Tross an

Sie zogen im Morgengrauen los – zunächst dreißig Dörfer: Kimbern, Teutonen, einige verstreute Familien aus den zerstörten Küstensiedlungen. Wagen, soweit es sie noch gab, wurden mit Kindern, Vorräten und Werkzeugen beladen. Tiere trotteten zwischen den Menschen, Hunde bellten, alte Lieder wurden in gebrochenem Ton gesummt. Ein Tross, wie es ihn unter den nördlichen Stämmen noch nie gegeben hatte. Auf dem Weg nach Süden kamen sie durch zerschlagenes wüstes Land. Mehr Menschen voller Angst und Hoffnung schlossen sich dem Zug an. An der Spitze ritten die Krieger – Männer mit Speeren, Schilden und strengen Blicken. Nicht, um zu kämpfen, sondern um zu schützen. Ihr Blick war nach Süden gerichtet, dorthin, wo das Land hoffnungsvoll flüsterte: Hier gibt es noch Leben. Orik ging neben dem Wagen seiner Mutter. Die Wege waren rau, oft bloß Trampelpfade zwischen Wäldern und Sümpfen, doch das Band zwischen den Menschen wurde mit jedem Tag stärker. Sie kamen durch das Land der Angrivarier. Der dortige Fürst, ein alter Mann mit wettergegerbtem Gesicht, trat ihnen mit einer Schar Krieger entgegen. Es hätte eine Schlacht geben können – doch es gab nur Worte. „Wir haben gesehen, was das Meer getan hat,” sagte der Fürst. „Ihr seid willkommen, wenn ihr des Friedens wegen kommt.” Die Häuptlinge der Kimbern und Teutonen traten vor, verhandelten mit offenem Blick. Und die Angrivarier ließen sie ziehen – ja, mehr noch: Einige Familien schlossen sich ihnen an. So ging es weiter. Der Zug wurde länger. Mehr Wagen. Mehr Stimmen. Mehr Hoffnung. Manche gaben, was sie konnten: Felle, Fleisch, Körner. Wer sich selbst versorgen konnte, war willkommen. Wer helfen konnte, bekam Schutz. Die Sonne wanderte Tag für Tag über den Himmel, und mit ihr wuchs der Zug.

Dann, nach vielen Monden türmten sich am Horizont die Berge auf – gewaltig, fremd, weiß in den Spitzen: das Land, das viele später Österreich nennen würden. Die ersten, die es sahen, blieben stehen wie versteinert. Selbst die Tiere hielten inne, als spürten sie die Bedeutung dieses Augenblicks. Orik stieg vom Wagen und trat vor. Der Wind wehte kalt von den Höhen herab, trug fremde Düfte – Harz, Stein, Schnee. „Was jetzt?” fragte er leise. Bjarn trat neben ihn. Auch sein Blick war auf die Gipfel gerichtet. Die anderen Häuptlinge versammelten sich. „Dies ist kein Land für Wanderer,” sagte Hrodgar. „Doch dahinter liegt das Land der Sonne, von dem die Händler sprechen. Reich. Mild. Fruchtbar.” „Aber der Weg ist steil und voller Gefahren,” warf ein anderer ein. „Dann werden wir den Weg nehmen, wie wir jeden anderen genommen haben,” antwortete Bjarn ruhig. „Schritt für Schritt.” Ein Schweigen trat ein. Alle wussten: Dies würde die schwerste Etappe ihres Weges. Doch keiner wandte sich ab. Denn sie waren nicht mehr nur Kimbern oder Teutonen. Sie waren der Zug der Vielen. Und der Süden wartete.

4. An den Mauern der Berge

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Die Wanderung führt durch Wälder, Berge und Täler

Die Berge rückten näher, wie uralte Wächter standen sie da, kalt und unnachgiebig. Der Zug der Vielen bog nach Westen ab, wo sich das Gebirge ein wenig senkte und Hoffnung auf einen Übergang machte. Späher ritten voraus, auf der Suche nach einem Pass – einem Weg durch die steinernen Zähne der Erde. Orik hatte gelernt, sie am Horizont zu erkennen: die kleinen Silhouetten der Reiter, ihre Handzeichen von fernen Hügeln. Manchmal kehrten sie schweigend zurück, mit ernster Miene. Manchmal blieben sie tagelang fort. Der Tross aber zog weiter, Schritt für Schritt, über sumpfige Wiesen, durch dunkle Tannenwälder, an Flüssen entlang, deren Wasser eiskalt von den Gletschern kam. „Es ist, als würden die Berge uns nicht durchlassen wollen,” murmelte Solveig eines Abends, als sie am Feuer saß und Orik Brot in die Hände drückte. Doch trotz der Kälte, trotz der Unsicherheit, hielten die Menschen zusammen. Sie hatten gelernt, dass niemand allein überlebte. Die Alten wurden in die Mitte der Gruppe genommen. Kinder liefen an den Händen von Fremden, die längst zu Freunden geworden waren. Wenn ein Wagen stecken blieb, eilten zehn Männer herbei, ohne ein Wort zu verlieren. Wenn ein Kind krank wurde, fanden sich sofort drei Mütter, die einen Sud kochten, ein Lied sangen, das Fieber zurückdrängten. Wenn nachts der Wind heulte und alle vom Hunger der Berge träumten, rückten die Menschen näher zusammen, ihre Stimmen vereint im alten Gesang der Stämme. Schon 1000 Kilometer hatten zu rurückgelegt, durch Sümpfe, Urwälder über Hügelketten. Vorwärts immer vorwärts. Sie waren ein hartes Volk geworden. Die Strapazen des Weges machten jeden hart. Ein unbeugsamer Wille trieb sie voran. Eines Morgens kam ein Späher zurück. Der Wind hatte Eis in seine Kleidung gefressen, aber seine Augen brannten vor Aufregung. „Wir haben einen Pass gefunden!” rief er keuchend. „Ein Weg durch das Gebirge!” Ein Aufschrei der Hoffnung ging durch die Menge – doch wurde er rasch gedämpft, als der Mann weitersprach. „Aber der Weg ist befestigt. Von Römern. Sie haben eine Wache dort, Steine und Holz zu einer Mauer gefügt. Sie lassen niemanden passieren.” Die Häuptlinge zogen sich zurück. Wieder wurden Worte gewechselt, ernste Blicke ausgetauscht. Schließlich kehrten sie zu ihrem Volk zurück. „Wir kämpfen nicht, wenn wir nicht müssen,” sagte Bjarn laut. „Wir sind keine Eroberer. Wir suchen ein Zuhause.” „Also ziehen wir weiter an den Bergen entlang,” fügte Hrodgar hinzu. „Bis sich ein anderer Weg zeigt. Oder bis wir mit den Römern reden können.” Einige murrten. Andere nickten. Doch niemand ging. Denn der Zusammenhalt, der sie trug, war stärker als die Angst. Sie zogen weiter – an den Mauern der Berge entlang, entschlossen und ruhig. Orik spürte es deutlich: Die Menschen waren nicht mehr nur eine Schar Flüchtender. Sie waren zu etwas Größerem geworden. Ein Stamm – geboren aus der Not, zusammengewachsen im Sturm. Und irgendwo jenseits der Gipfel wartete ein neues Leben. Noch nicht sichtbar. Aber schon spürbar – wie das erste Licht des Morgens hinter dunklen Wolken.

5. Noreia – Das Herz aus Eisen

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Eine befestigte Stadt in den Bergen

Die Sonne stand tief, als sich das Tal öffnete und die Stadt erschien – Noreia. Eingebettet zwischen bewaldeten Hügeln und den östlichsten Ausläufern der Alpen lag sie da, fest und stolz. Türme aus Stein ragten in den Himmel, umgeben von Mauern, die anders waren als alles, was Orik je gesehen hatte. Sie waren nicht aus losen Felsbrocken errichtet wie in den Dörfern des Nordens, sondern aus sorgfältig behauenen Steinen, in Reihen gesetzt, mit Metallspangen und Holzstützen verstärkt. Ein Raunen ging durch den Zug der Vielen. Die Menschen hielten inne, starrten, als hätten sie ein Märchen erblickt. Einige weinten. Andere lachten ungläubig. „Das ist auch das Werk unserer Volksstämme?” fragte Solveig leise. Bjarn nickte. „Nicht alle Stämme leben wie wir. Manche haben schon lange ihre Heimat gefunden. Und daraus Großes gemacht.” Sie betraten die Stadt durch ein breites Tor aus Holz und Bronze, ohne Widerstand, ohne Waffen. Noreia war ein Ort des Handels – und der König von Noricum hatte von ihrem Kommen gehört. Die Häuptlinge wurden willkommen geheißen, als Gäste, nicht als Bittsteller. Für drei Tage sollte der Zug rasten. Orik streifte durch die Stadt, getrieben von Neugier. Die Straßen waren aus festgetretenem Lehm, manche sogar mit flachen Steinen gepflastert. Es roch nach Ruß, nach Schweiß, nach Metall – aber auch nach gekochten Kräutern und süßem Wein. In einem offenen Hof fand er, was ihn am meisten faszinierte: eine Schmiede. Feuer loderten in Halbrundöfen, Männer mit breiten Armen hämmerten auf glühendes Eisen ein. Funken tanzten in der Luft. Das Geräusch war laut, rhythmisch, fast wie Musik. Ein alter Schmied, die Haare vom Ruß grau geworden, bemerkte Orik. „Na, Junge? Noch nie eine echte Werkstatt gesehen?” fragte er mit einem Schmunzeln. Orik schüttelte den Kopf. „Nicht so eine. Was macht ihr da?” „Eisen. Gutes Eisen.” Der Schmied zeigte auf einen glänzenden Brocken. „Magneteisenstein. Und Spateisenstein. Seit Urzeiten holen wir sie aus den Bergen hier. Von vorzüglicher Güte, wie die Händler sagen.” Er nahm ein Stück und ließ es durch Oriks Finger gleiten. Es war schwer, glatt und kalt. „Was macht ihr daraus?” „Werkzeuge. Waffen. Räder. Nägel. Alles, was ein Volk stark macht.” Er sah Orik ernst an. „Nicht nur Schwert und Schild. Sondern das, was ein Volk leben lässt.” Orik nickte langsam. Er verstand es noch nicht ganz, aber er spürte: Hier war mehr als nur Glanz und Handwerk. Hier war Wissen. Erfahrung. Zeit. Als er später zu seinem Vater zurückkehrte, sagte er: „Sie sind wie wir. Aber sie leben anders als wir. Sie sind geblieben und haben gebaut.” Bjarn legte ihm die Hand auf die Schulter. „Und wir sind gekommen, um zu lernen. Vielleicht ist das unser nächster Schritt.” Noch in der Nacht berieten die Häuptlinge. Einige wollten weiter nach Süden. Andere sprachen davon, in Noreia zu bleiben, Land zu kaufen, Wurzeln zu schlagen. Orik aber konnte nicht schlafen. Er saß auf einer Mauer und blickte hinab auf die glimmenden Feuer der Schmieden.

6. Terrassen aus Stein und Feuer

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Eisenverarbeitung meisterhafter Schmiede

Orik erwachte früh, noch bevor die Sonne über den Bergrücken stieg, der sich wie ein gewaltiger Schild vor die Stadt Noreia legte. Die Luft war klar und kühl, roch nach Harz, Metall und feuchtem Lehm. Er war nicht gekommen, um zu rasten, sondern um zu sehen. Zu verstehen. Noreia lag auf mächtigen, breiten Terrassen, jede einzelne wie ein aus dem Berg geschlagener Absatz. Vier Ebenen erhoben sich übereinander, wie die Stufen eines gewaltigen Thrones. Die steilen Ränder der Terrassen bildeten eine natürliche Festung – selbst ohne Mauern wäre diese Stadt kaum einzunehmen gewesen. Nur im Norden, wo das Gelände flacher verlief, hatte man mit Menschenhand nachgeholfen: Palisaden, Wälle, Türme. Orik wanderte langsam von Terrasse zu Terrasse. Das Leben pulsierte hier in eigener Ordnung. Auf den unteren Ebenen arbeiteten Händler, Töpfer, Gerber. Es roch nach Rauch, nach gegerbtem Leder und gegorenem Apfelmost. Frauen in langen Wollkleidern trugen Körbe mit Obst und Kräutern. Kinder liefen barfuß über steinige Wege, lachten, riefen einander zu in einem Dialekt, der fremd klang und doch vertraut war. Weiter oben klirrten Hämmer. Dort lagen die Schmieden, überdacht von hölzernen Vorbauten, aus denen der schwarze Rauch in dicken Schwaden stieg. Männer und Frauen schlugen auf glühendes Eisen ein, zogen Schwerter, Beile, Haken und Werkzeuge aus dem Feuer. Orik erkannte das rote Gestein, das sie Magnet- oder Spateisenstein nannten – die Adern des Berges, die sie seit Urzeiten abbauten. Ein alter Schmied – nicht der vom Vortag – sah ihn an und nickte ihm zu. „Komm näher, Junge. Das hier ist Noricum. Das Herz des Eisens.” Doch Orik wollte heute noch weiter – hinauf zur Befestigung auf dem Rücken des Berges. Dort lag der eigentliche Riegel der Stadt, wie ein gewaltiger Arm aus Stein und Holz. Die Befestigung reichte fast 200 Schritte über den Bergrücken und trennte das Tal ab, in dem die Stadt sich erstreckte. Ein Wall aus Lehm und Stein, fast zwei Meter breit, zog sich quer durch das Gelände. Er folgte einem Pfad, der ihn zum alten Doppeltor führte, durch das auch sie gekommen waren. Zwei vorspringende Türme, je acht Meter breit, hatten das Tor einst gefasst. Orik sah die Krieger, die in den Türmen wachten, die Speere jederzeit bereit. Wenn die Trompeten erklangen wurde das schwere Tor langsam geöffnete für Händler, Gesandte, Pilger, für Menschen wie seine Familie. Am westlichen Ende sah er, wie der Wall in eine Holzpalisade überging. Pfosten, eng gestellt. Der Zaun verlief in einem Zickzackmuster, das die Angriffsfläche verringerte – klug gebaut, durchdacht. Vier Türme verstärkten die Palisade. Jeder war anders. Orik näherte sich dem halbrunden Haslerturm, ganze vier Schritte breit. Der ovale Severinturm war noch dichter gebaut, stärker. Der Amandusturm – ein Zwilling des ersten. Und am Ende, dort, wo der Hang scharf abfiel, stand der Eckturm: verstärkt mit drei Pfostenreihen, gestützt von Streben, gebaut gegen den Himmel. Orik lehnte sich an einen der alten Pfosten. Der Wind strich über die Höhen, trug ferne Stimmen aus der Stadt herauf. Er dachte an sein Dorf, an die Küste, an den Sturm. Und an das, was möglich war. Die Kimbern hatten vieles verloren. Aber hier, in Noreia, erkannte er, dass auch Germanen bauen konnten wie Steinmetze, denken wie Feldherren und arbeiten wie Götterschmiede. Vielleicht, dachte Orik, würden sie nicht ewig ziehen müssen. Vielleicht war auch für sie ein Platz vorgesehen – nicht nur im Land, sondern in der Geschichte.

7. Ich, Orik – der Heimatlose

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Ein junger Krieger, gedankenversunken am Flussufer

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem wir zum ersten Mal römische Rüstungen in der Sonne blitzen sahen. Das war oben, in den Bergen Noricums, bei Noreia. Wir waren müde, hungrig, voller Hoffnung – und naiv. Damals war ich kaum fünfzehn Winter alt, aber ich trug schon ein Schwert. Ich hielt es für wichtig, obwohl ich nicht wusste, ob ich es würde benutzen können. Ich wollte kämpfen, ja – aber nicht, um zu töten. Ich wollte es, weil ich dachte, wir würden damit endlich einen Ort erobern, an dem wir bleiben könnten. Die Römer hatten uns zwei Männer geschickt, angeblich um uns ein Land zu zeigen, das fruchtbar und leer sei. Aber ihre Worte waren weich wie Fett – und genauso glitschig. Unsere Späher fanden bald heraus, dass sie uns in einen Hinterhalt führten. Der Konsul Carbo wollte nicht verhandeln. Er wollte uns vernichten. Damals schlugen wir zurück. Es war kein heldenhafter Sieg. Es war Wut. Es war der Sturm, den man entfesselt, wenn man ein ganzes Volk an den Rand drängt. Ich kämpfte an der Seite meines Vaters Bjarn, sah Männer fallen, Römer fliehen, und am Ende ein Gewitter vom Himmel brechen, das mehr rief als tausend Kriegshörner: Genug! Aber es war nicht genug. Nicht für uns. Denn was tun, wenn man siegt – aber keinen Platz hat, an dem man feiern kann? Die Jahre vergingen. Ich wurde älter, kräftiger, stiller. Der Zug wuchs. Helvetier schlossen sich uns an – Tiguriner, Tougener. 300.000 Seelen, so sagte man. Ich glaube, es waren mehr. Ich habe nie gezählt. Ich habe nur gesehen, wie die Kinder wuchsen und die Alten starben, während wir weiterzogen, von Hoffnung zu Hoffnung, von Ablehnung zu Ablehnung. Dann kam Divico. Er war jung wie ich, aber von Geburt ein Führer. Ein Tiguriner, schlank, wortkarg. Man folgte ihm nicht, weil er befahl – sondern weil er nie wich. Ich war unter seinem Befehl, als wir uns von der Hauptgruppe trennten, durch das grüne Herz Galliens zogen, durch die Wälder und Flüsse, die heute kaum noch jemand beim Namen kennt. Wir kamen ins Land der Nitiobroger. Sie boten uns nichts. Rom aber bot uns Tod.

Agen (Sommer 107 v. Chr.)
Zwei Konsuln kamen uns entgegen: Lucius Cassius Longinus und Piso Caesoninus. Hochmütig. Arrogant. Mit Legionen im Rücken. Sie hielten uns für Barbaren, für wilde Tiere mit Fellen auf dem Rücken und Gier in den Augen. Aber wir waren keine Tiere. Wir waren Menschen ohne Dach. Und das ist gefährlicher. Die Schlacht bei Agen. Ich weiß nicht mehr, wie lange sie dauerte. Vielleicht nur einen halben Tag. Vielleicht einen ganzen. Was ich weiß: Es war keine Schlacht. Es war ein Schnitt durch das Herz Roms. Divico ließ sie in die Falle laufen. Ich war Teil der Truppe, die den westlichen Hang besetzte. Ich sah ihre glänzenden Helme zwischen den Bäumen, ihre Marschordnung. Dann das Pfeifen unserer Pfeile, das Krachen der Speere, das erste Röcheln. Ich tötete dort. Ich erinnere mich an das Gesicht des ersten Mannes, der unter meinem Schwert fiel. Er war jung. Vielleicht nicht viel älter als ich in Noreia. Vielleicht hatte auch er geglaubt, er kämpfe für das Richtige. Ich werde nie wissen, wie er hieß. Die beiden Konsuln starben. Ihre Männer ergaben sich. Divico zwang sie, ihre Waffen abzulegen. Er ließ sie gehen – aber demütig, nackt vor ihren Göttern und ihrer Republik. Einige unter uns forderten ihren Tod. Divico weigerte sich. Ich verstand ihn nicht. Heute vielleicht ein wenig. Denn was wir wollten, war nicht römisches Blut – sondern, dass Rom uns endlich sieht. Nicht als Plage. Nicht als Gefahr. Sondern als das, was wir sind: ein Volk auf der Suche nach einer Zukunft. Jetzt sitze ich an einem Fluss, mein Schwert neben mir, mein Blick in die Strömung. Wir ziehen weiter. Immer noch. Ich frage mich manchmal, ob meine Kinder – falls ich je welche habe – einen Ort werden kennen dürfen, den sie Heimat nennen. Nicht ein Lager. Keine Ruine. Kein geborgtes Feld. Vielleicht. Vielleicht nicht. Aber ich weiß: Wenn es eines Tages ein solches Land gibt – dann wird es auf dem gebaut sein, was wir errungen haben. Nicht mit Gold. Nicht mit Blut. Sondern mit dem festen Willen, nicht unterzugehen. Ich bin Orik. Sohn eines teutonischen Bauern, der nie wieder gepflanzt hat. Krieger eines Volkes ohne Land. Und ich werde weitergehen. Bis wir es gefunden haben.

8. Dies Ultimus – Der letzte Tag

Campum Martium, Provinz Gallia Transalpina, 5. Oktober 105 v. Chr.
Zenturio Lucius Varinius Silvanus, Legio XIII

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Rom schickt zwei Armeen gegen den Tross aus Familien

Ich kannte den Klang einer kampfbereiten Legion. Ich kannte das Rufen der Hornbläser, das Klirren von Eisen, das dumpfe Stampfen der Caligae auf festgetretenem Boden. Ich kannte auch die Angst, die sich in Männerherzen einnistete, wenn die Schlachtreihe sich noch nicht geschlossen hatte. Aber ich hatte noch nie den Tod riechen gehört. Sie kamen nicht wie die keltischen Reiter oder wie die Numider mit ihren schnellen Bögen. Die da kamen wie ein Sturm. Kein Volk. Kein Heer. Eine Woge aus Schilden, Körpern, Speeren. Männer, Frauen, sogar Kinder am Rande der Züge – ein wanderndes Volk, das keinen Frieden mehr kannte, weil man ihnen nirgendwo einen Platz gewährt hatte. Wir nannten sie zuerst Barbaren. Skythen vielleicht, sagten einige. Oder wilde Gallier. Doch das hier waren keine gewöhnlichen Gegner. Das hier war ein anderes Rom, auf der falschen Seite der Zivilisation. Die Feuerschalen flackerten in unserem Lager. Ich war mit meiner centuria unter Caepios Befehl. Dreißig Jahre hatte ich gedient, gesehen, wie die Legionen in Britannien Fuß fassten, in Numidien den Sand traten. Doch heute stand ich mit dem Rücken zur Rhone, die Speere unserer Späher in den Rippen der Wahrheit. Mallius Maximus war unser nomineller Oberbefehlshaber – ein homo novus, ein Mann ohne Ahnen, der Konsul geworden war. Caepio, ein Patricius, erkannte seinen Rang nicht an. Zwei Lager, zwei Befehle, kein Plan. Ich sagte zu meinem optio: „Wenn wir heute sterben, dann nicht durch fremde Hand, sondern durch unsere eigene Eitelkeit.” Ich schreibe dies auf ein Stück Pergament, das ich unter dem Zeltboden vergraben habe, bevor ich selbst zu den Waffen griff. Vielleicht findet es ein Bauer. Oder ein Feind. Vielleicht ein Legionär, der einst unsere Geschichte weiterschreibt. Was ich sagen will: Rom kannte Hannibal. Aber Hannibal war ein Stratege. Diese da sind ein Volk. Und wenn wir sie nur Barbaren nennen, dann haben wir nichts verstanden. Sie kämpfen nicht um Land. Sie kämpfen, weil sie nichts mehr zu verlieren haben. Und das, amici, ist der gefährlichste Feind von allen.

9. Der Fluss der Entscheidung

Arausio, 6. Oktober 105 v. Chr.

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Teutonischer Zorn überrennt römische Legionäre

Der Sommer war vergangen, der Herbst zog golden über das Land – und mit ihm wanderte der Zug der Kimbern und Teutonen weiter. Noreia lag längst hinter ihnen, ebenso wie die Berge. Auch Gallien hatten sie durchquert, wo viele Türen verschlossen blieben. Manches Dorf hatte sie verjagt, manche Stadt verhandelte, doch keine gewährte ihnen Heimat. „Wir sind ein Volk auf der Straße,” sagte Bjarn eines Abends am Feuer. „Kein Land nimmt uns auf. Vielleicht müssen wir es uns nehmen.” Und so wandten sie sich wieder gen Süden. Es war das Jahr 105 vor dem großen römischen Kalender. Der Zug war gewachsen – nicht mehr nur Kimbern und Teutonen, sondern auch Elbgermanen, Helvetier, verbündete gallische Klane. Eine gewaltige Karawane: Familien, Krieger, Älteste, Tiere, Wagen. Ein Volk in Bewegung. Dann kam der Tag, an dem der Himmel rauchig war vor Staub, und die Späher zurückkehrten mit bleichen Gesichtern. „Römer. Zwei Heere. Am großen Fluss im Süden – sie nennen ihn Rhodanus.” Die Rhone. Ein mächtiger Strom, das Rückgrat der römischen Provinzen. Und nun standen dort zwei römische Armeen – unter Mallius Maximus und dem Adeligen Caepio. Beide mit Legionsadlern, aber ohne Einigkeit. Orik war inzwischen sechzehn, groß und kräftig geworden. Er ritt mit den Spähern, trug nun selbst ein Schwert, geschmiedet in Noreia. Er sah die Lager der Römer mit eigenen Augen: zwei gewaltige Felder aus Zelten, Banner flatternd, Schilde glänzend. Doch etwas stimmte nicht. Die Lager standen getrennt, zu weit auseinander, die Linien unverbunden. Die Häuptlinge der Kimbern und Teutonen berieten am Flussufer. „Sie stehen nebeneinander, doch sie kämpfen nicht miteinander,” sagte Hrodgar. „Stolz hat ihre Führer blind gemacht.” Bjarn nickte. „Dann kämpfen wir nicht gegen Rom. Sondern gegen zwei Männer, die glauben, sie seien größer als ihr Reich.” Am Morgen des 6. Oktober begann die Schlacht. Die Römer hatten ihre Heere nicht vereint – Caepio hatte sich geweigert, seinem Rivalen den Oberbefehl zu überlassen. Ein Fehler, den seine Soldaten mit dem Leben bezahlten. Orik sah zum ersten Mal, wie eine Legion fällt. Wie eiserne Disziplin gegen unaufhaltsame Wut versagt. Die germanischen Krieger fielen wie eine Sturmflut über das erste Lager her. Die Römer, mit dem Rücken zur Rhone, kämpften verbissen – doch ohne Rückhalt, ohne Fluchtweg. Sie wurden überrannt. Als Mallius Maximus endlich eingriff, war es zu spät. Sein eigenes Heer geriet in Panik, als es die brennenden Zelte des Nachbarlagers sah. Das zweite Lager fiel am selben Tag. Beide römischen Armeen wurden vernichtet. Der Fluss trug mehr Blut als Wasser. Die Schlacht von Arausio war eine der schwersten Niederlagen in der Geschichte Roms.

Am Abend stand Orik zwischen den Überresten eines römischen Trosses. Wagen mit Prunk, Schriften in fremder Sprache, goldene Adler – alles verlassen oder erobert. „Ist das unser Sieg?” fragte er leise. Bjarn trat neben ihn. „Es ist ein Zeichen. Dass man uns nicht mehr ignorieren kann.” „Und was kommt jetzt?” „Jetzt,” sagte der alte Häuptling, „muss unser Volk entscheiden, was es mit seiner Kraft tun will: bauen oder brennen.” Orik blickte in die Ferne. Der Weg war noch nicht zu Ende. Aber an diesem Tag – am Ufer der Rhone – hatte sich die Geschichte geändert. Nicht nur die der Kimbern und Teutonen. Sondern die Roms. Denn zum ersten Mal hatten die Germanen gesiegt. Und die Welt würde es hören.