Gutenberg erfindet den modernen Buchdruck
Mainz um 1550. Johannes Gutenberg (* um 1400; † 1468) erfindet das Drucken mittels Druckerpresse und beweglichen Lettern und revolutioniert damit die herkömmliche Buch-Herstellung durch handschriftliches Abschreiben. Die beschleunigte Verbreitung von Wissen löst eine Medienrevolution aus und gilt als wichtiges Schlüsselelement der Renaissance.
1. Gutenbergs Lehrling

Die Sonne stand tief am Himmel über Mainz, als Paul durch die engen Gassen von Mainz schritt. Der plötzliche Tod seines Meisters hatte ihn erschüttert. Noch gestern hatte er in der vertrauten Werkstatt gestanden, die nach Tinte, Leim und Papier duftete. Nun aber war alles verloren. Ohne Meister, ohne Arbeit, ohne Zukunft. Er kickte einen losen Pflasterstein beiseite und ballte die Hände zu Fäusten. Es musste weitergehen. Er war ein Buchbinder-Geselle, geschickt mit den Händen, vertraut mit Pergament und Leder. Doch wer würde ihn nun aufnehmen? Die Antwort kam aus den Gesprächen auf dem Marktplatz. Eine neue Werkstatt, sagten die Händler, sei in der Stadt eröffnet worden. Dort geschehe etwas völlig Neues. Sie arbeiteten nicht mit Feder und Pergament allein, sondern mit Metall und Pressen. Der Name des Meisters war Gutenberg. Paul zögerte nicht lange. Mit klopfendem Herzen suchte er die Werkstatt auf, eine unscheinbare Tür in einer schmalen Gasse. Ein Hämmern und das Kreischen von Metall auf Metall drangen heraus. Er trat ein. Der Raum war erfüllt von geschäftigem Treiben. Männer in ledernen Schürzen beugten sich über seltsame Vorrichtungen, hielten kleine Metallstücke ins Licht, setzten sie in Reihen. Ein Geruch von geschmolzenem Blei lag in der Luft. Paul trat unsicher näher, als eine kräftige Stimme ihn ansprach. „Was willst du hier, Junge?” Paul drehte sich um und blickte in die entschlossenen Augen eines Mannes mittleren Alters. Der Blick war scharf, durchdringend. „Ich suche Arbeit”, sagte Paul hastig. „Ich bin Buchbinder-Geselle. Mein Meister ist gestorben, und ich … ich will lernen.” Der Mann musterte ihn, dann nickte er langsam. „Dann hast du von unserer Arbeit gehört? Vom Druck mit beweglichen Lettern?” Paul schluckte. „Ich habe davon gehört, aber ich verstehe es nicht. Noch nicht.” Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes. „Dann lernst du es jetzt. Ich bin Johannes Gutenberg.” Gutenberg führte Paul zu einem langen Tisch, auf dem kleine Metallstücke ordentlich aufgereiht lagen. Er hob eines auf und hielt es Paul hin. „Dies, Paul, ist eine Letter. Sie ist aus einer Legierung aus Blei, Zinn und Antimon gegossen, damit sie langlebig und präzise ist. Jede Letter steht für einen Buchstaben.” Paul betrachtete das winzige Stück Metall fasziniert. „Und damit drucken wir Bücher?” Gutenberg nickte. „Ja. Zuerst setzen wir die Lettern in einen Rahmen, Zeile für Zeile, Wort für Wort. Sobald die Seite vollständig ist, bestreichen wir sie mit einer feinen Schicht Druckerschwärze. Dann legen wir ein Blatt Papier darauf und pressen es mit dieser Maschine hier.” Er deutete auf eine große hölzerne Presse. Paul sah, wie ein Gehilfe einen Hebel betätigte. Die Platte senkte sich und presste das Papier auf die Lettern. Als der Gehilfe das Papier vorsichtig anhob, erschienen gestochen scharfe Buchstaben darauf. „Erstaunlich”, murmelte Paul. Gutenberg lächelte. „Bücher können nun in großer Zahl vervielfältigt werden. Die Welt wird sich verändern, Paul. Und du kannst ein Teil davon sein.”
2. Wettbewerb

Paul hatte sich kaum an den rußgeschwärzten Werkstattgeruch gewöhnt, als die ersten Schwierigkeiten auftraten. Es begann mit geflüsterten Gerüchten. Die Kopisten der Stadt, jene ehrwürdigen Schreiber, die in stillen Kammern Pergament mit Tinte füllten, betrachteten die neue Werkstatt mit wachsendem Misstrauen. „Diese Maschine ist eine Bedrohung”, hörte Paul einen alten Mann auf dem Markt murmeln. „Was wir mit Geduld und Hingabe schreiben, spuckt sie in einem Augenblick aus! Was wird aus uns, wenn niemand mehr unsere Abschriften braucht?” Bald blieb es nicht mehr nur bei Worten. Eines Abends, als Paul das schwere Holztor der Werkstatt verriegeln wollte, sah er Gestalten in der Dunkelheit lauern. Schatten huschten zwischen den Fassaden, und ein unheilvolles Flüstern lag in der Luft. Paul spürte ein ungutes Ziehen in der Brust. Dann kam der Lärm. Mit brennenden Fackeln und Stöcken bewaffnet, versammelten sich die Kopisten vor der Werkstatt. Einige hielten Pergamentrollen in den Händen, als wollten sie damit beweisen, dass die wahre Kunst nicht aus Metall, sondern aus Federstrichen bestand. „Zerschlagt die Presse!” rief einer. „Sie wird unser aller Ruin sein!” Paul sprang zurück, als ein Stein gegen die Tür krachte. Im Inneren der Werkstatt ergriff Gutenberg das Wort. Mit fester Stimme, die sich über das aufgebrachte Murmeln erhob, trat er hinaus auf die Schwelle. „Hört mich an!” rief er. „Ihr fürchtet, dass diese Erfindung euch vernichten wird, aber ihr täuscht euch! Sie wird uns alle bereichern!” Ein älterer Kopist trat vor, seine Stirn zerfurcht von Jahren des Schreibens. „Bereichern? Und was wird aus unserer Kunst? Was wird aus dem Wissen, das wir mit unseren eigenen Händen festhalten? Wer braucht noch Kopisten, wenn ein Hebel tausend Seiten druckt?” Gutenberg trat näher, seine Augen funkelten. „Ihr seid Gelehrte, Männer des Wissens! Mit eurer Hand allein könnt ihr nur wenige Werke vervielfältigen. Doch mit meiner Presse kann das Wissen in alle Königreiche getragen werden. Stellt euch vor, ein Manuskript von euch könnte nicht zehn, sondern zehntausend Menschen erreichen! Die Gelehrten der Zukunft werden auf dem bauen, was ihr erschafft!” Ein Murren ging durch die Menge. Einige Kopisten tauschten unsichere Blicke. Doch die Angst saß tief. „Und wenn niemand mehr für unsere Abschriften zahlt?” rief ein anderer. Gutenberg hob eine Hand. „Eure Kunst ist nicht verloren. Ihr kennt die Sprache, die Schriften, ihr könnt die Manuskripte vorbereiten, korrigieren, verbessern. Die Druckerpresse braucht kluge Köpfe, um sie zu füllen! Kommt zu uns. Arbeitet mit uns! Zusammen machen wir Mainz zur Büchermetropole der Welt!” Stille. Nur das Knacken der Fackeln war zu hören. Paul hielt den Atem an. Dann trat der ältere Kopist vor, schüttelte den Kopf – aber mit einem Lächeln. „Ein Schreiber an einer Maschine … das ist eine seltsame Vorstellung.” Gutenberg streckte ihm die Hand entgegen. „Aber eine, die die Welt verändern wird.” Langsam legte der Schreiber seine Hand in die des Druckers. Ein Raunen ging durch die Menge. Einige Kopisten wandten sich ab, andere blieben, nachdenklich. Paul wusste: Dies war erst der Anfang.
3. Der Bote des Bischofs

Der Regen hatte eingesetzt, als ein hochgewachsener Mann mit ernster Miene durch die engen Gassen von Mainz schritt. Sein langer Mantel, von den Tropfen schwer, war mit dem Wappen des Bischofs der Stadt verziert. Die Menschen, die ihn erblickten, traten respektvoll beiseite. Sein Ziel war die Werkstatt eines gewissen Johannes Gutenberg – ein Mann, dessen Erfindung die Welt verändern konnte. Doch nicht jeder war überzeugt, dass dies nur zum Guten geschehen würde. Als der Bote die Tür zur Werkstatt öffnete, schlug ihm der Geruch von geschmolzenem Metall, Druckerschwärze und nassem Pergament entgegen. Die Männer in der Halle warfen ihm neugierige Blicke zu, doch er ließ sich nicht beirren und trat auf Gutenberg zu, der an einem Satz von Lettern arbeitete. Paul, der seit Wochen an seiner Seite arbeitete, hielt inne und spürte eine plötzliche Anspannung in der Luft. „Meister Gutenberg,” sprach der Bote mit fester Stimme, „ich bringe eine Botschaft von unserem ehrwürdigen Bischof.” Gutenberg richtete sich auf und wischte sich mit rußgeschwärzten Fingern über die Stirn. „Eine Botschaft, sagt Ihr? Dann lasst sie mich hören.” Der Bote zog ein versiegeltes Pergament hervor, brach das Siegel und begann zu lesen: „Die heilige Kirche und die Obrigkeit dieser Stadt haben mit großer Sorge die Ausbreitung Eurer Druckkunst beobachtet. Mit Eurer Maschine ist es möglich, Worte und Bilder in einem Maße zu vervielfältigen, wie es zuvor unvorstellbar war. Doch birgt diese Macht auch Gefahren. Wenn Worte sich in Monaten verbreiten können, wo es zuvor Jahre dauerte, wie sollen dann Irrlehren, Aufrufe zur Rebellion oder gar Häresie noch rechtzeitig eingedämmt werden? Wer trägt die Verantwortung für das, was in Euren Werkstätten gedruckt wird? Gutenberg verschränkte die Arme vor der Brust. Paul bemerkte, dass die übrigen Arbeiter ebenfalls das Arbeiten eingestellt hatten und aufmerksam lauschten. „Werte Herren,” sagte Gutenberg ruhig, „ich verstehe Eure Sorge. Doch seht es so: Hat nicht jede große Erfindung der Menschheit zuerst Angst hervorgerufen? Als die ersten Straßen gebaut wurden, fürchteten sich die Kaufleute, dass Räuber sich schneller verbreiten könnten. Als das Schiffsbauwesen Fortschritte machte, fürchteten sich Fürsten, dass fremde Invasoren leichter anlanden würden. Und doch haben diese Fortschritte mehr Wohlstand, mehr Wissen und mehr Möglichkeiten für die Menschen gebracht.” Der Bote runzelte die Stirn. „Und wenn Häretiker ihre Schriften mit Eurer Presse verbreiten? Wenn Aufrührer die Ordnung dieser Stadt mit gedruckten Worten untergraben?” Gutenberg nickte langsam. „Ein Messer kann Brot schneiden oder einen Menschen verletzen. Ein Pferd kann den Acker bestellen oder in die Schlacht reiten. Die Frage ist nicht die Erfindung selbst, sondern wie wir sie nutzen. Sollte die Wahrheit nicht stärker sein als jede Lüge? Sollte gutes Wissen nicht schneller verbreitet werden als Irrtum?” Der Bote schwieg. Paul konnte sehen, dass ihn die Worte trafen, doch die Sorgen waren damit nicht ausgeräumt. „Aber wer wacht darüber? Wer bestimmt, was Wahrheit und Irrtum ist?” „Die Menschen selbst”, entgegnete Gutenberg. „Glaubt Ihr denn, dass sich Lügen und Hetze so leicht halten können, wenn jeder Mann, jede Frau, jeder Gelehrte sich mit gedrucktem Wort selbst eine Meinung bilden kann? Wenn Wissen nicht mehr das Privileg einiger weniger ist, sondern für viele erreichbar?” Der Bote seufzte. „Ihr habt Euren Standpunkt klar gemacht, Meister Gutenberg. Doch wisst, dass der Bischof und andere mächtige Männer Euch genau beobachten werden. Diese Werkstatt mag eine Revolution sein – aber jede Revolution kann entweder Licht oder Schatten bringen.” Gutenberg nickte und reichte dem Boten die Hand. „Dann lasst uns für das Licht arbeiten.” Der Bote zögerte einen Moment, dann ergriff er die Hand des Druckers. Paul atmete auf. Doch er wusste: Dies war erst der Anfang eines langen Kampfes um Wissen, Macht und Wahrheit.
4. Ein gefährliche Auftrag

Das Feuer in der Schmiede glomm leise, und der Geruch von geschmolzenem Metall hing in der Luft, als Paul sich über die hölzerne Werkbank beugte. Seine Hände, längst geübt im Setzen der Lettern, arbeiteten routiniert, doch seine Gedanken waren noch immer bei dem Besuch des Boten. Die Worte des Bischofs hallten in seinem Kopf nach: Wer trägt die Verantwortung für das, was in euren Werkstätten gedruckt wird? Plötzlich öffnete sich die schwere Tür der Werkstatt. Ein Mann trat ein, schlank, aber sehnig, mit wettergegerbtem Gesicht und tief sitzender Kapuze. Seine Augen wanderten durch die Halle, blieben kurz an Paul hängen, dann bewegten sie sich weiter zu Gutenberg, der sich gerade mit einem Gesellen über eine neue Druckplatte unterhielt. „Seid Ihr Meister Gutenberg?” fragte der Fremde mit leiser, aber eindringlicher Stimme. Gutenberg sah von seiner Arbeit auf. „Der bin ich. Was führt Euch zu mir?” Der Mann zog eine zusammengerollte Pergamentrolle aus seinem Mantel und legte sie vorsichtig auf die Werkbank. „Ich habe einen Auftrag für Euch. Ein Druck in größerer Zahl. Wir haben gehört, dass Ihr die besten Pressen weit und breit habt.” Gutenberg nahm das Pergament entgegen, warf einen flüchtigen Blick darauf und schob es Paul zu. „Paul, sieh es dir an.” Paul öffnete die Rolle, und als sein Blick auf die Zeichnung fiel, zog sich sein Magen zusammen. Das Bild zeigte einen Bauern mit gekrümmtem Rücken, auf dem ein feist grinsender Adliger saß, flankiert von einem Priester in prunkvollem Ornat. Der Bauer trug ein Joch, seine Arme und Beine wie die eines Pferdes gezeichnet. Der Adel und die Kirche ritten auf ihm, als wäre er nicht mehr als ein Tier. Darunter stand in fetten Lettern: „Auf, Ihr Brüder! Brecht die Joche, reiht Euch ein! Die Gerechtigkeit gehört dem Volke!” Paul spürte, wie seine Finger sich verkrampften. Er hatte von dem Unmut der Bauern gehört, die gegen Abgaben, Willkür und Frondienste aufbegehrten. In manchen Gegenden waren sie bereits zusammengeströmt, hatten Steuerbücher verbrannt, gar Höfe von Adligen geplündert. Er hob den Blick, suchte Gutenbergs Augen. Der Meister hatte die Arme verschränkt, sein Gesicht verriet nichts. „Ein eindrucksvolles Bild”, sagte Gutenberg langsam. „Aber das ist kein harmloser Auftrag. Ihr wollt eine Revolution in Blei gießen.” Der Fremde hob die Hände. „Wir wollen Gerechtigkeit. Ihr habt selbst gesagt, dass Worte die Welt verändern können – sollen sie das nicht zum Besseren tun?” Paul spürte, wie sein Herz schneller schlug. Die Worte des Boten klangen ihm wieder in den Ohren: Wer wacht darüber? Wer bestimmt, was Wahrheit ist? Er schluckte. „Meister, wir könnten in große Gefahr geraten, wenn wir das drucken.” Der Mann trat näher. „Ihr seid doch selbst einfache Leute. Ihr arbeitet mit euren Händen, ihr wisst, wie schwer das Leben für einen Mann ohne Titel ist. Wollt Ihr wirklich weiter den Herren dienen, die auf uns herabblicken?” Paul wollte etwas erwidern, doch Gutenberg hob eine Hand. „Es ist wahr, dass Worte eine Waffe sein können. Aber eine Waffe schärft sich nicht leichtfertig”, sagte er ruhig. Ein Moment der Stille verstrich. Dann nahm er das Pergament, rollte es wieder zusammen und reichte es dem Fremden zurück. „Ich werde es nicht drucken.” Der Mann verengte die Augen. „Ihr fürchtet den Bischof?” „Ich fürchte nur, was geschehen wird, wenn das Blut erst einmal zu fließen beginnt.” Der Fremde schwieg einen Moment, dann nahm er die Rolle entgegen. „Ihr werdet Euch nicht ewig heraushalten können, Meister Gutenberg. Worte sind nicht aufzuhalten, und auch Ihr werdet wählen müssen, auf welcher Seite Ihr steht.” Dann drehte er sich um und verschwand in der Nacht. Paul atmete tief durch. „Habt Ihr richtig entschieden, Meister?” Gutenberg blickte auf die Werkbank, auf die kleinen, akribisch geordneten Lettern, mit denen sie Bücher, Wissen, Wahrheit druckten. „Das wird die Zeit zeigen.”
5. Die Wahrheit in Lettern

Paul hatte die unruhige Nacht kaum geschlafen. Die Worte des Fremden hallten in seinem Kopf nach: „Worte sind nicht aufzuhalten.” Doch er wusste auch, dass Worte zerstören oder aufbauen konnten. Und Gutenberg hatte entschieden, nicht Teil einer Rebellion zu werden. Die Werkstatt war an diesem Morgen besonders belebt. Setzer, Drucker und Gehilfen arbeiteten an neuen Blättern, während Gutenberg selbst über eine verbesserte Druckplatte nachdachte. Paul saß an seinem Platz, als sich die Tür erneut öffnete. Ein älterer Mann trat ein, mit würdevoller Haltung und einem dicken Lederband unter dem Arm. Er trug einfache, aber gut gepflegte Kleidung, und sein Blick wirkte zugleich gütig und entschlossen. „Meister Gutenberg?” fragte er. Gutenberg trat vor und nickte. „Ihr habt eine Arbeit für uns?” Der Mann legte das Buch behutsam auf die Werkbank und schlug es auf. „Ich bringe Euch eine Bibel. Eine Bibel in unserer eigenen Sprache.” Paul runzelte die Stirn. Deutsche Bibeln waren selten – die Kirche behielt die lateinische Schrift in ihren Händen, damit allein die Gelehrten sie lesen konnten. Er beugte sich über das Manuskript und ließ seinen Blick über die feinen Zeilen gleiten. Dann blieb sein Blick hängen. Fast wie durch eine höhere Fügung trafen seine Augen auf einen Abschnitt, den er laut las:
„Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten.
Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten:
Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind;
Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.”
Ein Murmeln ging durch die Werkstatt. Einige der Gehilfen hatten innegehalten und lauschten. Gutenberg beugte sich über das Manuskript, seine Fingerspitzen fuhren über die sorgfältig geschriebenen Zeilen. Dann richtete er sich auf. „Das sind mächtige Worte.” Der Mann nickte. „Ja. Worte, die endlich von allen verstanden werden können – nicht nur von Priestern und Gelehrten. Worte, die das Volk ermutigen und lehren. Worte, die die Wahrheit ans Licht bringen.” Paul sah Gutenberg an. Er erinnerte sich an das Gespräch mit dem Boten des Bischofs. „Wer wacht darüber? Wer bestimmt, was Wahrheit ist?” Jetzt erkannte er es: Die Wahrheit stand hier. Schon immer. Nicht in der Hand eines einzelnen Herrschers oder Klerikers. Nicht in Aufrufen zum Aufstand oder zur Rebellion. Sondern in der Schrift selbst. Gutenberg legte eine Hand auf das Buch. „Ich werde es drucken.” Ein Raunen ging durch die Werkstatt. Paul hielt den Atem an. Gutenberg sprach weiter, mit fester Stimme: „Die Wahrheit wird ihren Weg finden. Doch ich sage Euch auch: Sie wird nicht spalten, sondern verbinden. Arme und Reiche sollen unter Gottes wachsamem Auge zusammenarbeiten. Beide sollen drucken lassen, was die Welt verbessert. Der Drucker ist nicht Richter, sondern Bote. Und die Menschen werden lesen, urteilen und begreifen.” Der Mann lächelte. „Dann wird Gott mit Euch sein, Meister Gutenberg.” Paul spürte, wie eine Last von ihm fiel. Er wusste: Dies war nicht das Ende des Kampfes um Wissen und Macht. Aber es war ein Schritt in eine neue Welt – eine, in der Worte nicht länger in den Händen weniger, sondern im Herzen vieler lebten. Die Werkstatt machte sich an die Arbeit.
6. Pauls eigenes Werk

Die Idee ließ Paul nicht mehr los. Seit Gutenberg sich entschlossen hatte, die Bibel in deutscher Sprache zu drucken, war ihm klar geworden, dass Bücher mehr sein konnten als bloße Überlieferungen von Königen, Priestern und Gelehrten. Sie konnten Menschen helfen – den einfachen Leuten, den Handwerkern, den Bauern, die auf dem Markt ihre Waren verkauften. Und so fasste er einen Entschluss. Er würde sein eigenes Buch drucken. Nicht über Adel, nicht über Theologie – sondern über Wissen, das den Menschen direkt nützte. Er wusste genau, wo er anfangen musste: im Kloster. In einer klaren Morgenstunde machte Paul sich auf den Weg zum nahegelegenen Kloster, dessen Scriptorium und Bibliothek weithin für ihre Schriften bekannt waren. Die Luft roch nach feuchtem Stein und alten Pergamenten, als er durch die schweren Eichentore trat. Drinnen herrschte eine gedämpfte Stille. Mönche mit gebeugten Rücken saßen über Manuskripten, ihre Federn kratzten leise über Pergament. Die Fenster warfen schmale Lichtstreifen auf die Holztische, und der Duft von Tinte lag in der Luft. Ein älterer Bruder kam auf ihn zu. „Kann ich Euch helfen, mein Sohn?” Paul nickte respektvoll. „Ich bin Setzer in der Werkstatt von Meister Gutenberg. Ich möchte ein Buch drucken – kein großes Werk, aber eines, das den Menschen helfen kann. Ich bitte um Erlaubnis, Abschriften von Schriften über Heilkräuter und Hausmittel zu machen.” Der Mönch musterte ihn mit prüfendem Blick. Dann nickte er langsam. „Heilkräuter also? Ein nützliches Wissen. Und doch ein Wissen, das wir mit Bedacht weitergeben müssen.” „Ich möchte es nicht für mich behalten. Ich will, dass einfache Leute verstehen, welche Pflanzen ihnen helfen können. Wer sich keinen Arzt und nicht mal einen Bader leisten kann, mag lernen, wie er selbst seiner Gesundheit dienlich sein kann.” Der Mönch musterte ihn einen Moment, dann zeigte er auf eine Tür. „Kommt mit mir.” Paul folgte ihm durch einen schmalen Gang, vorbei an hohen Regalen voller alter Bände, bis sie in eine kleine Kammer traten. Dort saß ein junger Mann an einem Tisch, vor ihm feine Messer und Holzplatten. „Das ist Bruder Matthäus”, stellte der ältere Mönch vor. „Er ist unser bester Bilder-Schnitzer.” Bruder Matthäus sah auf. „Ihr wollt also Texte kopieren?” Paul nickte. „Ja, über Heilpflanzen. Aber nicht nur die Worte – die Menschen müssen auch sehen können, was sie suchen.” Matthäus’ Augen leuchteten auf. „Dann braucht Ihr Abbildungen.” Er wischte sich die Hände an seiner Kutte ab und zog ein Stück Holz heran, an dem er gerade arbeitete. Paul trat näher. Die feinen Linien zeigten eine Pflanze mit gezackten Blättern und einer kleinen Blüte. „Johanniskraut”, erklärte Matthäus. „Gut gegen Melancholie.” Paul strahlte. „Ihr seid genau der Mann, den ich brauche.” Der junge Mönch lächelte und streckte ihm die Hand entgegen. „Dann lasst uns ein Buch machen, das jeder verstehen kann.” Tag für Tag verbrachte Paul seine wenigen freien Stunden im Scriptorium. Mit sorgsamer Hand kopierte er Texte über Kräuter, Hausmittel und Heilmethoden aus alten Manuskripten. Bruder Matthäus fertigte Holzschnitte an, damit die Menschen nicht nur die Namen, sondern auch die Formen und Blätter der Pflanzen kannten. Als die ersten Seiten fertig waren, rollte Paul sie zusammen und trat mit klopfendem Herzen den Heimweg an. Dies war mehr als eine Idee – es war ein echtes Buch in der Entstehung. Und bald würde es nicht nur in seiner Werkstatt liegen, sondern in den Händen jener, die es wirklich brauchten. Auf die Titelseite druckte er „Wir werden die Welt verändern mit nützlichem Wissen für jeden!”